Karambolage, Zusammenstoß der Rolltreppen
erworben 1990

Prof. Dr. Brigitte Rieger Jähner, 2001, (aus Katalog Museum Junge Kunst Frankfurt (Oder))

 
1980
Mischtechnik auf Hartfaser
Außentafeln je 239,5 x 120,5

Mitteltafeln je 98 x 120 cm
 

Das Leben ist oftmals absurder, als ein Film es darzustellen vermag. So zeigt sich immer wieder, dass scheinbar Unmögliches zur Realität wird und unvorhersehbar Chaotisches aus dem alltäglichen Leben nicht wegzudenken ist. Verständlich ist aber auch, dass eine Gesellschaftsordnung, die alles unter Kontrolle zu haben glaubte, jene Kunst nicht gerade förderte, die diesen Sachverhalt zum Ausdruck brachte. So waren es sowohl fiktive Themenstellungen wie "Karambolage, Zusammenstoß der Rolltreppen" (1980) als auch reale Katastrophen wie der "Untergang der Titanic" (1983), die Lutz Friedel zur Darstellung reizten und zugleich ein Gegengewicht zur offiziell harmonisierenden Sicht auf das Leben bildeten.

Doch es war nicht allein die Thematik der Bilder von Friedel, die den Richtlinien der DDR-Kulturpolitik nicht entsprach. Vielmehr fand der Künstler für seine Bildinhalte eine Gestaltungsform, die uns die Unabänderlichkeit und Brachialität des unabwendbaren vor Augen führt. Die karikative Überzeichnung von Gesichts- und Körperphysiognomien sowie die damit verbundene zum Teil derbe Erotik verbanden sich bei ihm immer wieder mit einem kraftvoll intensivem Pinselduktus.

Hinzu trat die Nutzung von Formerfahrungen, die in Italien zwischen 1909 und 1916 von den Futuristen gemacht wurden. Lutz Friedel durchaus vergleichbar, versuchten diese Maler die vitalen und zugleich konkreten Erscheinungen, wie sie für eine Massengesellschaft in den großen Städten mit ihrem Lärm und dem Tempo der Verkehrsmittel typisch sind, im Gestaltungsrhythmus ihrer Kunst erkennbar werden zu lassen. Als Resultat dieses Wollens wurden bei ihnen ebenso wie bei Friedel vibrierende Konturen und phasenhaft sich wiederholende Formveränderungen erkennbar, die das Simultane des Geschehens nachvollziehbar machen. Doch im Unterschied zu den Futuristen ist der Aussagegehalt bei Friedel ein durchaus anderer. So wird in seinen Darstellungen eben keine Großstadt- und Technikbegeisterung erkennbar, sondern eher eine Untergangsstimmung, von der eine Gesellschaft vor bzw. während des unabwendbaren Kollaps befallen ist. Für diesen Aussagegehalt nutzt der Künstler gewaltsame Verkürzungen. Diese sind bereits bei der herauffahrenden Menschengruppe feststellbar, wo sich der Bewegungsablauf noch in geordneten Bahnen vollzieht.

Eine andere Lage bietet sich bei den in Untersicht dargestellten Herabfahrenden dar, deren Situation bereits durch das Chaos bestimmt wird. Ein ineinanderverschachteltes Menschenknäuel lässt hier die ganze Misere deutlich werden: Nichts geht mehr vorwärts, noch ist ein Weg zurück denkbar. So scheint die Bewegung des Einzelnen unmöglich, ohne eine Kettenreaktion mit unabsehbaren Folgen auszulösen. Doch auch der momentane Stillstand bietet keinen Ausweg aus der unhaltsamen Situation. Darauf weist eine körperpralle Dame hin, die sich mit arglosem Antlitz auf das Gesicht eines schreienden Busenwunders stützt. Doch auch ihre Beine werden festgehalten und ein Entkommen aus dieser misslichen Situation ist so auch ihr verwehrt. Selbst der Mann mit dem erhobenen Zeigefinger ist letztlich hilflos, wurde er doch wie alle anderen in die ausweglose Situation einbezogen.

Eine gewisse Ordnung stiftet der Künstler allein durch sein kompositionelles und farbliches Gefüge. So werden von ihm zwei horizontale Mitteltafeln zwischen die vertikalen Außentafeln gespannt. Der Kontrast von hell bzw. schwarz belassenen Freiflächen dieser mittleren Felder, die inhaltlich durch das Thema "Blick aus fahrender U-Bahn" begründet sind, schenkt dem Auge nicht allein Ruhe vor den chaotischen Menschenansammlungen, es schafft darüber hinaus auch einen kompositionellen Ausgleich zu den vertikalen Tafeln. Das leuchtende Pink von einigen Kleidungsstücken der hier Dargestellten stellt dabei einen Dialog zum Rosé des Inkarnats der Figuren dar. Es wird begleitet von einem stakkatohaft eingesetzten, intensiv leuchtenden hellen Grün, das von einem strahlenden Gelb signalhaft begleitet wird. Es unterstreicht die gefahrvoll- chaotische Situation einer reizüberfluteten Atmosphäre, aus der es kein Entkommen gibt.

B. R.-J.