Welttheater der Träume
Hans-Dieter Schütt
    Es wurde beinahe zum geflügelten Wort: Dieses und jenes sei weggewischt worden – mit einem Federstrich. Erweitern wir das bezügliche Vokabular um den - Pinselstrich. Des Malers Instrument als Sinnbild für die radikale Veränderung eines Zustandes. Nicht Schwamm drüber, sondern Farbe drüber. Aber wo der Schwamm in zweifelhafter Art Wahrheit bereinigen, vergessen machen soll, da legt der Pinsel Wahrheit frei. Das Paradoxon also: Jede neue Schicht Farbe als Freilegung einer tieferen Schicht Wahrhaftigkeit. So jedenfalls Hoffnung und Trieb dessen, der mit innerem Beben und nervösem Drang vor seiner Leinwand steht, die ihm, wie den Schauspielern die Bühne, die Welt bedeutet. Farbe drüber, wegen der Wahrheit darunter.
Lutz Friedel malt seit Jahren eine Gruppe Maler verschiedenster Zeiten - berühmte Maler oder deren ebenso berühmte Motive; er bat sie zur imaginären Zusammenkunft, und irgendwann wohl schienen ihn die herbeizitierten Gestalten so intensiv anzuschauen, dass es zum Gespräch kommen musste. Gespräch heißt in der Kunstausübung: arbeiten. Also eingreifen, ändern, eine Sache weitertreiben, sie aus der Gewissheit nehmen, in der sie sich verankern könnte. Und so arbeitete Friedel, spielte mit den Farben - so, dass keine triumphiere, aber eine jede recht behalte. Ließ „seine“ Gerufenen die Positionen ändern, rief weitere historische Figuren auf, änderte Licht- und Schattenverhältnisse. Vergröberte, verfeinerte. Ballte, riss auf. Hielt das Bild am Leben, so wie den Maler das Malen am Leben hält. So wie einem Schriftsteller ja nicht hilft, geschrieben zu haben; es hilft nur immer, zu schreiben. Wie es ja auch nicht hilft, geliebt zu haben; es hilft nur, zu lieben. Ein Vorgang stets, der nicht weiß, wohin er will. Ein Pfad, der seinen schönsten Bogen um Wegweiser und absehbare Ziele schlägt. Der Brücken sucht, die beim Vormarsch brechen. Der also Glück mit Qual vereint. Denn wahre Freiheit bedeutet: Jeder Pinselstrich eröffnet eine Möglichkeit, die doch zugleich in neue Ungewissheit führt. In dem, was wir entscheiden, befreien wir uns und gelangen ins nächste Stadium Fremdheit, wo weitere Entscheidungen nötig werden. Kunst wie Existenz: Wer weiß schon, wie es weitergeht.
Über einen Zeitraum von fünf Jahren entstand „Das nächtliche Atelier“ - etwa dreißig Bilder, umrahmt von zahlreichen Studien und Skizzen. Eine seltsam geheimnisvolle Gemeinde auf den Gemälden dieser Serie: Gesichter, die hervortreten; Gesichter, die verschwimmen; etwas, das die Gruppe zusammenhält; etwas, das die Gruppe immer wieder zu sprengen droht. Kunstgeschichte erwacht hier zum Leben. Und mag es dem einen Betrachter Freude bereiten, diese Größen der Malerei sofort zu erkennen, so darf es anderen gefallen, im Rätseln zu bleiben, wer denn hier wer sei. Lutz Friedel hat eine Art Ahnengalerie geschaffen, die nie zur Ruhe kommt, weil er selber nicht zur Ruhe kommen will. Denn in einer Tradition stehen, bedeutet: beim Blick auf Früheres Lust zu behalten - zur Fortsetzung eines Selbstversuchs.
    „Das nächtliche Atelier“. Heraufbeschwörung also einer besonders geheimnisreichen Zeit. Nacht. Als Goethe in Rom war, erfuhr er: Wahre Kenner besuchten die Kapitolinischen Museen nur bei tiefer Dunkelheit, dann, wenn der Kustode die Statuen von allen Seiten mit einer Fackel beleuchtete. Die Kerzensession als Steigerungsgeschehen: Im Umkreis eines kleinen bewegten Lichtes schienen die beleuchteten Partien der Kunstwerke aus der Dunkelheit regelrecht hervorzuquellen. Die Bewegung der Skulpturen wurde in besonderem Maße sichtbar. Im Flackern des Feuers fuhr in einer Weise Leben in die Steine, wie es im Tageslicht nie möglich wäre. Die Nacht ist also eine Befreierin. Sie gibt dem Mystischen Raum, ohne dass es gleich entschleiert würde. Das einladend Finstere einer Geisterstunde. Bekannt beträchtlich ist die Zahl jener Kinderbücher, in denen dann, wenn Schlaf über die Menschen kommt, die Spielzeuge aufatmend zum Eigenleben erwachen, die Helden der Bilderbücher also endlich ihre Seiten verlassen und nun selber ungestört in einen quirligen Rumor des Spiels hineintanzen. Hymnen an die Nacht, trauerdurchzogen, waren eine Hauptarbeit der Romantiker. Sinn- und Sinnlichkeitssuche ganz in der Nähe der Epiphanie, der Erscheinung jenes ganz Anderen, das in kruder Realität schmerzhaft fehlt
Von diesen gemalten Variationen einer Gruppe geht Irritation aus. Etwas Fragendes, Bedrängendes. Gemeinsamkeit als vervielfachte Einsamkeit? Eingesperrte, die einander Halt geben? Versprengte, die neu definieren müssen, was Zuflucht sei? Zum Auftritt bestellt oder zum Verhör gerufen? Wir schauen auf Abgeirrte, an ihrer Existenz gehalten um den Preis einer gewissen Abgeschlossenheit. Wie sie uns anschweigen, all diese Gestalten. Ein Schweigen, weit mehr noch aus Augen kommend als von Lippen. Ein Schweigen, das dem Menschen wie ein Tier zur Seite geht. Andererseits strahlt diese Menge auch Vehemenz aus, Strömung, Kraft. Aber Kraft nicht als Protz, sondern als Problem. Es scheint bisweilen, dass sich diese Kraft im Farbenschwung, im Unschärfefieber überhaupt nicht mehr zu fassen weiß. Sie brodelt oder sie zerläuft - als bezwecke Friedel, dass wir diese Kraft der versammelten Menge unbedingt als Schwäche erleben. Als Unsicherheit. Als geradezu stolze Machtlosigkeit. Es gibt da offenbar eine gemeinsam getragene Last aller Künstler: mit Wahrheiten über die Welt ausgestattet, gerüstet zu sein mit dem Wissen über die Entfernungen, die zwischen Menschen möglich sind. Zur Last aber kommt das schönste Leiden: ebenso versehen zu sein mit so viel Sehnsucht, diese Entfernungen zu überwinden. Künstlers Wille! Aber (Künstlers Botschaft!): Nähe zwischen Menschen bleibt wahrscheinlich das Unerreichbare. Dies ist offenkundig der Vereinigungsgedanke der Versammelten. Der Übereinstimmungsgeist der Gruppe. Denn nähme man den Schmerz aus der Weltkunst (oder gar Gott), sie bräche zu einem Nichts zusammen. Noch wer Gänseblümchen malt, malt an der bangen Frage mit, wie diese Welt wohl in Balance zu halten sei. Die Kunstgeschichte ist eine Chronik der Wunden, der Wirren, der Wüstungen. Aber, und dafür steht das Werk aller, und dafür malt auch Friedel: Besagter Schmerz wird doch lebbar, indem er gesungen wird. Kunst aller Zeiten bestätigt mit nicht nachlassender Wirkung: Sagen lassen sich die Leute nichts, erzählen alles. Wer schreibt, wer komponiert, wer malt, der wagt letztlich zu behaupten: Der Himmel ist immer höher als der aus Erdennot kommende Schrei, der ihn zum Einstürzen bringen will.

Nächtliches Atelier
2012/13
Öl/Lwd 190 x 220 cm
  Der alte Picasso – just unterm Rock von Velazquez‘ „Infantin“. Auch der junge Picasso taucht auf. Menzel ist zu sehen. Oder jene Gestalt aus Edvard Munchs Bild „Der Schrei“. Dann der alte Liebermann. Rembrandt. Goya. Dix. Hans Grundig. El Greco. Kollwitz. Balthus. Beckmann. Delacroix. Und, und, und. Besagte „Infantin“ zieht sich in auffälligem Vordergrund durch die meisten Szenen der Bilderfolge. Der Lockruf der Grenzüberschreitung im gelüpften Gewande der Unschuld. Die Un-Verschämtheit einer Kindlichkeit, die in geradezu frommer Frechheit den Sündenfall herausfordert. Oder auch mal ein Wesen wird in der Art des Sterntaler-Mädchens, dem Farbkleckse wie Münzen in den Schoß fallen. Wie eine Muse wirkt diese Gestalt, unverfroren in ihrer Offerte, sich jedem hinzugeben. Jedem, der genau weiß, worauf er sich einlässt. Und jedem, der nicht wissen will, worauf er sich einlässt. Vielleicht allen, die sich ihr nähern, eine Warnung, doch fern zu bleiben: Manchmal hilft es dem Frieden der Seelen, eine Sehnsucht unerfüllt zu lassen.
Ebenso wie diese Figur ist auf nahezu allen Bildern der Sämann des Vincent van Gogh zu sehen. Einer, der die Szene quert. Kräftig von Arbeit, alle Hoffnung scheint in den Muskeln zu stecken oder im schrägen, bohrenden Blick. Der Sämann sät und geht weiter und wird vielleicht nie die Saat sehen, die lange nach ihm aufgeht. Er weiß nur, dass sie aufgeht. Er wartet, indem er aus dem Warten eine Vorwärtsbewegung macht. Auf einem der Bilder ist der Korb mit dem Saatgut die Malerpalette geworden, und die ausstreuende Hand trägt eine brennende Kerze. Die Kerze erlischt nicht, obwohl der Mann sehr kräftig ausschreitet. Es gibt Licht, das kein Sturm ausbläst; es gibt Erleuchtung, deren Quell keine Finsternis zuschüttet. Die Kerze als Nachbild eines realen Gegenstandes – und der Gegenstand wird doch Gegenbild, der die Realität übersteigt.
Ein Atelier, nachts. Es gibt Bildstufen, da ist dieser Ort noch umwandet, aber irgendwann wird der Raum geöffnet, erst nach hinten, dann auch nach oben. Friedel steigert seine Regie zum fortwährend heftiger sich tummelnden Arrangement. Dazu ein Mond! Darunter wird alle Kunst mehr und mehr süchtig nach Traum. Ganz simpel formuliert (der Satz stammt von Heiner Müller): „Die Funktion von Kunst ist es, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.“ Eben genau so, wie Träume es tun. Träume schaffen Realität ab, indem sie alle Ordnung abschaffen, alle Schwerkraft, alles Gewissen und alle Gesittung. Die Gewährsleute solcher Existenzlust (auch der Malleidenschaft!) spazieren einfach so herein, hier über eine Wendeltreppe, und stehen dem Künstler Modell für ein Bild vom rahmenlosen Denken. Denn es geht um ein Bild jenes Zeitgenössischen, das sich nicht in den Daten unserer eigenen Lebensfrist erschöpft. Es geht um die Abwehr eines fortwährenden Rationalisierungszwanges, der die Welt forsch einteilt in das, was real sei und irreal. Aufgerufen ist die Geräumigkeit hinter den Stirnen. Nur eine Kunst, die ihr Material ständig durch die Zensur eines gesitteten Bewusstseins schleust, kann sich der Art annähern, wie wir träumen: synchron, rücksichtslos, ungeschützt, mit selbstverständlicher Offenheit für Verstrickungen, welcher Art auch immer. Nichts ist doch zu Ende, nur weil es vorbei ist. Träume lassen in uns ein ungezügeltes Welttheater der Einbildung ablaufen, darin es keine Trennung in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft gibt: Iphigenie wohnt doch nebenan, im 6. Stock; Catilina gibt dem „Spiegel“ ein Interview; wir sind Eichmanns Söhne, Shakespeare schreibt unsere Gegenwartsstücke; Woyzeck kauft die Erbsen, die er fressen soll,bei „Lidl“; und wir liegen auf den Wiesen der Impressionisten, um unser erwachsenes Gesicht zu vergessen.
Friedels „Wüten“ und Fortschreiben im eigenen Bildaufbau offenbart: Im Kunstprozess muss man alles zulassen, was anfällt. Muss offen bleiben für plötzliche Verunsicherungen, für Einschüsse des Ungeplanten. Sich bloß nicht selber blockieren durch Vernunft! Vernunft ist (wie Moral!) mitunter einfach nur Feigheit vor einem Optikwechsel. Novalis postulierte, nur das Poetische sei „das echt absolut Reelle“. Was ist dies denn anderes als ein Aufruhr gegen den Druck von irgendeinem Außen, gegen das Gefüge, in dem wir aufgefordert sind, nur immer standesgemäß zu existieren und so zu verhärten. Im „Nächtlichen Atelier“ formt sich eine dichte Menge der Abgeirrten, der Narren, der Toren. Als seien sie zurückgekehrt - dorthin, wo man noch keine Konvention eingegangen ist. Nacht, das sagt auch: Die wirklich hell ausgeleuchtete Menschenseele wird es nie geben, denn alles Existierende ist ein Schatten von etwas anderem.
„Das nächtliche Atelier“ zeigt Gebeugte, Niedergeschlagene, Fragende, Vorwurfsvolle, Scheue, Beiseiteblickende, Selbstvergessene, Furchtsame, Zurückweichende, Finstere, beinah wesenlos Harrende. Die Nacktheit und das Hochgeschlossene; das Skelett und der Bauch; der Tanz und die Erstarrung; die wilde Jugend und das gezügelte, deprimierte Alter. Jedes dieser Bilder erzählt vom Umgang mit einer Energie, die Lust hätte, sich unmittelbar auszuwirken, die sich aber – und das ist der wahre Schmerz des Künstlers – fassen muss. Diese Energie treibt und reißt als Farbe in die Bildtiefen und wird fassbar, weil sie einen Widerstand, einen Gegenstand produziert. Gesichter, Körper, Konstellationen. Der Schöpfungsprozess: Mal triumphiert die fortreißende Farbflut, manchmal der Gegenstand. Manchmal die flutende Fläche, manchmal die Kontur. Ein Kampf ist es immer. Natürlich geht die Tendenz am Ende zur Kontur, und gewonnen haben alle, wenn diese Kontur dann besteht, ohne jedoch den Zustand der Mitgerissenheit aus dem Bild zu treiben. Lichtausschüttungen und Farbverfinsterungen wie eine Paarung von Eleganz und Ursprünglichkeit, von Disziplin und Spontaneität – womit wohl die allgemeine Kunstbedingung benannt ist.


Nächtliches Atelier
2010/11
Öl/ Lwd., 60 X 80 cm

 

Friedels Werk erzählt vom Schwung, sich mitreißen zu lassen. Von einem Thema, von einem Fluss der Assoziationen. Vom schier Uferlosen. Die Serie zeigt einen, der sich darin übt, sich gehen zu lassen. Das ist seine wahre Disziplin: mit Änderung nicht aufhören. Es ist die schwerste Arbeit, vielleicht: nicht zu früh Schluss zu machen mit sich selber. Den Ausdruck so oft probieren, bis das, was was mehr zu anderen als zu einem selbst gehört, weggelassen werden kann. Marcel Proust sagte, erst in der Wiederholung zeige sich ein Meister. Die Wiederholung ist alles andere als Reproduktion. Wiederholung, Variation bedeutet auch dem Maler Friedel: sich selber mit jedem Bild noch näher zu kommen. Das Notwendige noch schärfer zu fassen. So nur nimmt Selbstempfindung zu: mit dem Risiko, das in jeder Negation von etwas Bisherigen beschlossen liegt.
„Hier ist alles geordnet und einsehbar. Nirgends ein Hinweis darauf, dass hinter den Dingen etwas lauert. Und doch, dachte ich, müsste es, und besonders in diesem Gebäude, eine Möglichkeit geben, zu erfahren, was einen, wenn man das Phänomen der Zeit hinter sich gelassen hat, erwartet.“ So ist es zu lesen in einem Novellenband des Dichters Hartmut Lange, der den Titel trägt: „Im Museum“. Ersetzen wir das Wort Gebäude durch: Atelier. Und lassen wir offen, ob mit „Nächtliches Atelier“ einzig der Titel des Friedel-Bildromans gemeint ist, also jener Ort, wo sich die Porträtierten und Skizzierten auf Künstlergeheiß treffen, oder nicht auch das Atelier des Malers selbst. Das Atelier unmittelbar und parabolisch als Werkstatt, wo Zeiten, die einander nie streiften, und Gestalten, die einander nie begegneten, zu lebendiger Konfrontation ineinander stürzen. Was als reale Konstellation unmöglich ist, geschieht als Vollzug des wunderbar Unheimlichen – das kein Anfang und kein Ende hat. Der malende Poet her als Kundiger für Aufwirbelungskünste und Verwischenstechnik von Hell und Dunkel, von Schein und Sein – einem Sein, das doch ebenfalls nur Täuschungskostüm eines weiteren Scheins ist.
Verehrung ist immer auch Vernutzung. Das nächtliche Atelier: Intensivstation Erinnerung. Beatmungsort. Erinnerung und Ehrerbietung schaffen Nachbilder - als poetische Gegenbilder zum pressend Geordneten einer Welt, in der sich der Mensch nicht erfüllt, sondern in schnurrender Gegenwart bloß noch verbraucht.